Der Ansprechpartner für eine ganze Familie
Günter Endres beschreibt unter anderem, wie er in der Ortenauhalle auf eine vierköpfige Familie aus Syrien stieß, die seine Hilfe gerne in Anspruch nahm. Daraus entstand eine Freundschaft, die bis zum heutigen Tag andauert.
In der Mitte des Jahres 2015 ist mir klar gewesen, dass ich helfen will, wenn viele Geflüchtete in unser Land kommen. Die Zahl der Schutz Suchenden nahm zu und die Bundeskanzlerin, von deren sozialem Engagement und dem ihrer Partei ich nicht viel gehalten habe, hat mit ihrem „Wir schaffen das“ Mut gemacht.
Weil die Zahl der Geflüchteten ständig stieg, wurden vom Landkreis auch zwei Sporthallen in der Stadt als Unterkünfte vorbereitet. Die Ortenauhalle wurde mit 200 Schlafstellen ausgerüstet. Dazu kamen Kühlschränke und Waschmaschinen. Hinter der Halle gab es Gemeinschaftsküchen, in denen die Geflüchteten ihre Mahlzeiten zubereiten konnten.
Eines Tages kamen die Geflüchteten an. Aus Meßstetten, wie wir hörten. Warum? Die Kasernen in Meßstetten waren über die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität hinaus belegt und irgendwo musste man die Leute ja unterbringen. Vier Familien und 140 alleinstehende junge Erwachsene. Die Leute, die gekommen waren, um zu helfen, hatten sich bereits vorbereitet. Stadtführungen für die Geflüchteten waren geplant.
Der erste wichtige Weg war zu „Aldi“, dann zum Rathaus, zum Jobcenter, zum Arzt und zum Krankenhaus. Ich habe mich dem Freundeskreis Flüchtlinge Lahr angeschlossen, wo man die Aufgaben koordiniert hat.
Das vorhandene ehrenamtliche Personal war durch diesen Ansturm total überfordert. So konnten wir, in guter Zusammenarbeit mit den sozialen Diensten, doch bei vielen Aufgaben unterstützend tätig sein. An den Vormittagen habe ich damit begonnen, Kindern und Jugendlichen Deutsch-Unterricht zu geben. Das führte dazu, dass der kleine Osama seine Begrüßung mit „Guten Morgen, die Nase“ und mit einem Fingerzeig auf den Körperteil begann.
Die Freundlichkeit der Leute, die gewiss große Sorgen mit sich trugen, hat mich fasziniert. Kleider haben wir besorgt, Arztbesuche begleitet und sehr oft bei unseren Mitbürgern große Hilfsbereitschaft festgestellt. Das hat meine Arbeit leichter gemacht.
Eines Freitags, es war nach 16 Uhr, haben die Sozialarbeiter ihren Feierabend begonnen und mir gesagt, dass ich auch, wie der Hausmeister, nach Hause gehen könne, die Security sei ja da und die Geflüchteten kämen alleine zurecht. Ich wollte mich auch auf den Heimweg machen. Da stand ein Mädchen vor mir – wie ich später erfuhr, eine Sechzehnjährige – und klagte auf englisch und mit Gesten über Halsschmerzen. Die Mutter, die ich bat, mit zur Apotheke zu kommen, bedeutete mir, wir könnten alleine fahren. In der Apotheke hieß es: Ohne Diagnose können wir kein Medikament verabreichen. Also hieß es freitags um 17 Uhr: einen Arzt suchen.
Der Vater des Mädchens kam mit und wir haben tatsächlich einen Arzt gefunden. Diagnose: Halsentzündung. Nach einem weiteren Apothekenbesuch bekam sie ein Medikament und bald ließen die Schmerzen nach und sie war wieder gesund. Sie gehörte zu einer der Familien im Camp.
Eines heiligen Freitags – der Sonntag der Muslime – holte ich den Vater aus der Moschee ab. Vor der Halle stand die Familie, die Mutter mit den zwei Töchtern, Hadia (11) und die Halswehschwester Hadil, blaue Säcke um sich versammelt. Alle drei traurig und weinend. Auf die Frage, was denn los sei, die Antwort: „wir ziehen um“. Weitere Frage: wohin? Antwort: Wissen wir nicht, hat man uns nichts gesagt. In der damaligen Zeit eine übliche Antwort. Man hat den Geflüchteten nichts über ihren künftigen Aufenthaltsort gesagt, um jegliche Diskussion zu vermeiden.
In diesem Fall war es eine Wendung zum Positiven. In einem Haus der Marie-Juchacz-Straße, zum Ludwig-Frank-Haus gehörend, gab es „Familienzimmer“ mit Dusche und Klo und einer Gemeinschaftsküche. Ein gewaltiger Fortschritt für die Familie nach der Notunterkunft in der Sporthalle.
Der Wunsch eigentlich aller war von Anfang an, zur Schule zu gehen. Also sind wir eines morgens – die ganze Familie – losgezogen, eine Schule für Hadia und Hadil zu suchen. Für zwei Mädchen ohne deutsche Sprachkenntnisse bot sich die Friedrichschule an. Zum einen, weil ich als ehemaliger Lehrer an dieser Schule wusste, dass dort die Arbeit mit Leuten ohne deutsche Sprachkenntnisse kein Neuland ist. Dort wurden seit seit Jahrzehnten internationale Klassen unterrichtet. Zum Zweiten, weil im Hause bereits zwei Vorbereitungsklassen existierten.
Hadia wurde problemlos aufgenommen und zählt heute zu den sehr guten Schülerinnen der Gemeinschaftsschule. Hadil wurde aus Altersgründen abgelehnt. An der Badischen Malerfachschule bekam sie aber sofort eine Zusage. Die Schulleitung war froh, unter den Schülern jetzt zwei Mädchen zu haben. Hadil fand die Idee nicht so gut und bat mich, eine andere Schule zu finden. Also machten wir uns auf den Weg zur Hauswirtschaftlichen Schule im Mauerfeld. Die Schulleiterin nahm Hadil trotz bereits gut gefüllter Vorbereitungsklassen auf.
Neben dem Engagement für diese Familie blieb die „normale“ Flüchtlingsarbeit zu tun. Der Freundeskreis Flüchtlinge Lahr, damals 100 Helfer stark, bat mich nach relativ kurzer Zeit, die Leitung der monatlichen Sitzungen zu übernehmen. Im Jahr 2016 kamen zwei neue, größere Aufgaben dazu. Ein Container-Lager in der Tramplerstraße wurde eröffnet. Ein privates Kaffeetrinken des Oberbürgermeisters und seiner Familie am Ostermontag sowie von den Bewohnern organisierte Geburtstagsfeiern brachten dort etwas Licht in den doch recht grauen Alltag der Menschen in den Containern.
Dann folgte das Container-Dorf in der Rainer-Haungs-Straße auf dem Flugplatz. Weit weg von allem. Der Deutsch-Kurs in der Stadtmitte war nur nach langem Fußweg erreichbar, später dann gab es den neue „Aldi“ im Lahrer Westen als Einkaufsstätte. Für die Geflüchteten gab es aber Essen aus der Kantine. Das war keine gute Lösung aus unserer Sicht, schon gar nicht aus der Sicht der Flüchtlinge. Fahrräder, die der Freundeskreis zur Verfügung stellte, verbesserten die Situation ein wenig.
In den folgenden Jahren kamen weniger Neuankömmlinge nach Lahr. Das Problem, das nun aber zusätzlich auf den Freundeskreis zukam, war die Anschlussunterbringung der Geflüchteten in eigenen Wohnungen bei gleichzeitig fehlendem Wohnraum. Wohnungen sind in Lahr – wie auch andersorts – Mangelware. Verwandte der Geflüchteten, die in unsere Stadt zuziehen wollen, finden nicht leicht eine Bleibe.
Was mich sehr unzufrieden macht ist, dass die Stadt trotz vielfältiger Anstrengungen – auch eine Arbeitsgruppe vom Freundeskreis ist tätig – nicht genug Wohnraum für die Anschlussunterbringung bereitstellen kann. Man hat die Container auf dem Flugplatz als Wohnraum reaktiviert. Das ist keine wirkliche Lösung und hilft den Zielen der Integration in keiner Weise.
Neben allem anderen ist die Bleiberechts-Diskussion ein für den Freundeskreis wichtiges Thema. Es geht nicht an, dass Menschen, die lange in Deutschland leben, keine Chance auf Integration und auf Arbeit bekommen. Die Themen werden nicht weniger, die Arbeit geht nicht aus. Manchmal ist man froh, wenn kleine Erfolge helfen können. So bleib ich dabei, solange meine Kraft reicht.
Erinnerungen an 2015
- Heimfried Furrer: Der Mann mit dem Überblick
- Cosima Lipps: Die Vermittlerin der deutschen Sprache
- Charlotte Verrel-Bennecke: Die Helferin, der Fremdheit vertraut ist
- Jürgen Siefert: Der Mann für alle Fälle
- Ina Breig-Köchling: Die Kümmerin um Frauen und Kinder
Info: Wer sich die insgesamt sechs Texte über das dramatische Jahr 2015 lieber gemütlich im Lesesessel statt am Computer zu Gemüte führen will, kann sie sich auch ausdrucken. Einfach das Drucken-Symbol am Ende der Seite betätigen.
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