Die Menschlichkeit soll grenzenlos sein

Überladene Schlauchboote, von der Küstenwache gestoppte Flüchtlinge oder an Strände gespülte Leichen sind die erschreckenden Folgen der Flüchtlingskrise. „Ich war immer wieder erschüttert von den Bildern“, sagt der Kirchenmusiker Martin Groß. Er sei mehrfach in Afrika gewesen, habe selber eine Landung von Bootsflüchtlingen erlebt. Er habe immer wieder überlegt, wie er helfen könne. Seine Antwort: „Öffentlich machen, was an schrecklichen Dingen passiert.“

Als stellvertretender Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum hat Groß zusammen mit der evangelischen Kirche und der Seenotrettungsorganisation »United for Rescue« (Gemeinsam Retten, »U4R«) eine Aktion unter dem Motto „Grenzenlose Menschlichkeit – man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt“ ins Leben gerufen. Auftakt war am Samstag, 10. Juli, in der evangelischen Stadtkirche in Offenburg gewesen. Redner waren unter anderem Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland. Mit dabei war auch Mirav Sido, Sprecherin des Freundeskreises Flüchtlinge Lahr. Sie berichtete über ihre gefährliche Flucht aus Syrien:


Titelfoto: Fabian Melber / Sea-Watch.org

Der evangelischen Kirche geht es mit ihrer Aktion in Offenburg und Kehl auch um Spendengelder für die Seenotrettung im Mittelmeer.


Mirav Sido und ihre Flucht aus Syrien

„Ich bin Mirav aus Kurdistan, Syrien, aus der besetzten Stadt Afrin. Ich habe jahrelang im Aleppo-Krieg gelebt, diese Jahre waren die Hölle. 2015, nachdem mein Haus von der Assad-Miliz bombardiert worden war, beschlossen wir, nach Afrin zu gehen. Die Straße nach Afrin war voller Checkpoints der bewaffneten Fraktionen und des IS. Ich war gezwungen, den Niqab zu tragen und meine Identität zu verbergen, damit sie nicht erkannten, dass ich Kurdin bin, weil sie Kurden oft kaltblütig töteten.

Während der Belagerung Afrins durch die Gegner Assads und türkische Truppen beschloss ich, nach Europa zu fliehen, damit meine Kinder in Sicherheit leben konnten. An der türkischen Grenze versperrten uns die türkischen Soldaten den Weg, während sie herum schossen und Menschen terrorisierten. Sie ließen uns stundenlang auf dem Boden sitzen und unsere Taschen wegwerfen. Mehrere Stunden später töteten sie einen jungen Mann vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder. Bei Einbruch der Dunkelheit schlichen wir durch den Stacheldraht in die Türkei.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit Mirav Sido und ihren Kindern Siamand und Rosell – Foto: privat

Im Januar 2016 traten wir die Todesreise an. Es schneite in Izmir. Wir haben einen türkischen Schlepper bezahlt, damit er uns übers Meer nach Griechenland schmuggelte. Um Mitternacht stiegen wir in das alte Schlauchboot, es war eigentlich nicht mehr zu gebrauchen. Die Schlepper warfen unsere Schwimmwesten weg. Wir waren kaum eine Viertelstunde unterwegs, da stoppte der Motor und es trat Benzin aus.

Jemand rief den Schlepper an, aber der Schlepper sagte, wir sollten nicht zurückgehen, sonst würde er uns erschießen. Unser Bootsführer konnte den Motor wieder starten und versuchte uns wieder an Land zu bringen. Einige Meter bevor wir das Ufer erreichten, stoppte der Motor wieder. Die Männer unserer Gruppe trugen die Kinder auf ihren Schultern und brachten sie sicher ans Ufer, unsere Kleidung nass vom Meer.

Die Auftaktveranstaltung in Offenburg auf YouTube

In einem verlassenen Rohbau verbrachten wir die Nacht in nasser Kleidung und froren. Ich blieb die ganze Nacht weinend wach und sah zu, wie meine Kinder vor Kälte zitterten und ihre Lippen blau wurden, aber ich konnte nichts für sie tun. Am Morgen gingen wir alle weg und wollten uns nicht mehr dem gleichen Schlepper anvertrauen.

In dieser Zeit wurde verbreitet, dass die Grenzen vollständig geschlossen würden. Am 10. Januar 2016 beschloss ich, den Versuch zu wiederholen und mit einem anderen Schlepper über das Meer zu fliehen. Auch diesmal bestand unsere Gruppe wieder aus 40 Personen, darunter zehn Kinder und eine schwangere Frau. Um Mitternacht brachen wir auf, der Schlepper sagte uns, es sei eine halbe Stunde Fahrt. Wir verirrten uns auf dem Meer; niemand wusste, wie man ein Boot steuert.

Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland, mit Mirav Sido – Foto: privat

Vier Stunden später ging uns das Benzin aus. Ich hielt meine Kinder in meinen Armen, um ihnen ihre Angst zu nehmen. Die Männer riefen die türkische Küstenwache an, um uns zu helfen. Ihre ständige Antwort war: „Fahrt zur Hölle!“ Ein anderes Schlauchboot, das umkehren wollte, wurde leck geschossen und ging mit allen Menschen unter.

Ich dachte, jetzt sterben wir alle. Ich erinnere mich nur daran, dass ich mein Handy herausholte und meinen Bruder anrief, dass wir in Lebensgefahr waren. Mein Bruder bat mich, GPS zu benutzen und das Telefon nicht auszuschalten. Dann rief er Verwandte in Griechenland an und sie riefen Polizei und Küstenwache an, um uns auf See ausfindig zu machen. Sieben Stunden verbrachten wir in dem nicht steuerbaren Boot, während die Wellen uns hin und her warfen. Im Morgengrauen erschien ein Rettungsboot. Von Kälte, Angst, Terror und dem Warten auf das Unbekannte waren wir so mitgenommen, dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass das Leben jemals weitergeht.

Aber jetzt stehe ich hier und erzähle Ihnen über meine Flucht und meine Rettung. Meine Kinder und ich sind in Sicherheit. Dafür danke ich Deutschland. Doch wir werden keine Minute diese Flucht vergessen können.“